Donnerstag, 29. Januar 2015

In deinem Windschatten

Jemand hat dir Spinnweben vor die Augen gehängt, Mädchen. Und wenn du das Netz nicht bald zerreißt, dann habe ich Angst um dich. Angst, dass du so wirst wie deine Großmutter mit ihren trüben blauen Engelsaugen, die immer in der Lage sind, auch das winzigste Staubkorn wahrzunehmen. In ihrem Haus lässt sie niemals Raum für Spinnweben, die könnten ja auch deinen Großvater stören. Für all die feinen Schleier, die ihr seit Jahren die Sicht rauben, ist sie blind.
Und eigentlich hast du das alles doch gesehen, Mädchen, nicht? Hast dich oft gefragt, wie sie so leben kann und wann sie wohl ihre Träume und Bedürfnisse auf den Dachboden geräumt hat? Das kann ich dir nicht sagen, Mädchen, aber dein eigener Dachboden ist auch nicht mehr so leer. Das macht aber nichts. Noch nicht. Ich passe auf alles auf. Und sehe durch deine Spinnweben hindurch.

Auf die Lautstärke seiner Worte kannst du nur schweigen. Er hat dich Kind genannt. Kind wie dummes Kind. Und du hast die Wucht des Wortes physisch gespürt. Du hast dich geschlagen gefühlt, das darfst du ruhig zugeben. Und natürlich weißt du auch, dass es respektlos ist, dass es eine Grenze überschreitet. So spricht man nicht mit seiner Partnerin.
Aber auf die fast physische Wucht seiner Worte konntest du nur verstummen. Und bist ihm gefolgt in deinen unbequemen Schuhen, die er so mag. Raus aus seinem Auto, die Treppe hinauf in seine Wohnung, die er zu eurer machen will. Du hast das Kleid, das ihr beide mögt, ausgezogen und hast still neben ihm gelegen, leise atmend, wach. Du hast Angst, dass er aufwacht. Seine Wut hängt noch immer im Raum.
Und du hast das Nichts gefühlt, zu dem deine Gefühle für ihn schlagartig geworden sind in der Sekunde, in der sein Wort dich getroffen hat. Du fühlst dich irgendwie schlecht deshalb, dabei musst du es deinen Gefühlen nicht übel nehmen, Mädchen, er hat sie eben verschreckt, sie sind geflohen vor ihm. Und deine späteren Handlungen, die alle nur dazu dienen, dieses Nichts zu verbergen, für das du dich so schlecht fühlst, werden sie nicht zurückbringen.
Du wirst trotzdem bleiben.
Ihr wart ja immerhin auch so glücklich ein halbes Jahr lang. Und deine Familie findet, dass ihr gut zusammenpasst. Du hast dir schon eure Hochzeit ausgemalt, so sicher hast du dich gefühlt mit ihm. Und er ist ja nicht immer so. Er schreit dich nicht immer an und nennt dich Kind wie dummes Kind, er kann auch verständnisvoll sein. Und sicherlich hast du auch schon Dinge gesagt oder getan, die ihn verletzt haben. Das sagst du dir.
Deine Gefühle vergessen die Verletzung trotzdem nicht. Auch nicht die weiteren, die folgen. Es fällt dir manchmal schwer, aufzustehen. Du lachst seltener, was er dir übelnimmt. Hübsch machst du dich immer erst, kurz bevor er nach Hause kommt. Davor hast du nicht die Kraft.
Ich bin die ganze Zeit bei dir und halte deine Hand. Manchmal flüstere ich dir etwas zu. Die Spinnweben vor deinen Augen sind so fein, du könntest sie wegwischen, ganz leicht, mit einer einzelnen Handbewegung. Aber weil sie so fein gewebt sind, ist es auch so schwer für dich, sie zu sehen. Ich kann das verstehen und warte geduldig.
Ich bin bei dir, als du das erste Mal deine Sachen packst, und verlasse dich nicht, als du beschließt, doch zu bleiben. Ab und an werde ich dich erinnern, dass du, als du dir vorgestellt hast, zu gehen, gar nicht so viel Angst hattest. Die Vorstellung, im Zug zu sitzen und weg zu fahren, irgendwo anders hin, weg von ihm, an einen neuen Ort, hat deine Augen aufleuchten lassen. Vielleicht hast du es nicht bemerkt. Wahrscheinlich hättest du dich schuldig dafür gefühlt.
Ich bin auch bei dir an dem Abend, an dem du Menschen aus deinem Leben eingeladen hast, Menschen, die er, wie er sagt, alle nicht mag. Und das sieht man ihm auch den ganzen Abend an. Dein Versuch, trotzdem ausgelassen und fröhlich zu sein, hat etwas Verzweifeltes. Das Flaschendrehen nutzt er, um einen deiner Freunde, auf den er schon lange eifersüchtig ist, zu fragen, ob er mal etwas von dir gewollt hat.
Später – du bist schon ein wenig betrunken – überkommt dich etwas von deinem alten Übermut und du willst einen Papierschnipsel, einen ganz kleinen nur, in die Teelichtflamme werfen. Er hat das Spielerische an dir noch nie verstanden, trotzdem dachtest du eine Zeit lang, er würde diese Seite von dir mögen. Jetzt fährt er dich nur an, kalt und scharf, dass du den Kindergarten lassen sollst. Er verbietet es dir.
Er hat wirklich „verbieten“ gesagt, bei dem Wort spitze ich meine Ohren und drücke deine Hand, so, dass du es spürst. Die grauen Schleier vor deinen Augen werden kurz farbig, tanzen wild hin und her. Alle im Raum schauen zu dir. Du kannst die Angst vor der Eskalation in ihren Augen sehen. Du lässt die Hand mit dem Papierschnipsel sinken.
Aber du hast meinen Händedruck gespürt und als alle gegangen sind, streitet ihr noch lange. Die ganze Nacht. Bis es schon wieder hell wird. Du sagst ihm, dass du seine Wortwahl nicht angemessen findest. Du bist seine Partnerin. Er kann dir nichts verbieten. Er sagt, du verhältst dich so kindisch, da hätte er jedes Recht, so mit dir zu reden. Ja, eigentlich bräuchtest du dich nicht einmal wundern, wenn er dir eine geknallt hätte.
Diesmal ziehe ich an deiner Hand, bin bereit, zu rennen oder anzugreifen, warte, was du tun wirst. Immerhin, du schweigst darauf nicht, du bist empört und sagst das auch und ihr streitet weiter und du bleibst dann aber doch. Und hast noch weniger Kraft.
Ihr streitet viel zu oft, als dass du dich noch stark fühlen, dich erholen könntest. Du kommst gar nicht hinterher damit, das alles zu reparieren, was zwischen euch immerzu in die Brüche geht. Die Gefühle und Bedürfnisse auf deinem Dachboden befinden sich in immer schlechterem Zustand, auch wenn ich immer wieder nach ihnen sehe und sie gelegentlich abstaube. Manche möchten laut aufheulen, sie wissen, dass du sie noch hören kannst, so dicht ist der Nebel um dich noch nicht.
Nur dein Lächeln wirkt jeden Tag gezwungener. Man sieht dir dein Unglück an, er nimmt es dir übel. Du weinst viel und wenn du vor ihm aus dem Zimmer flüchten willst, folgt er dir immer. Dann weinst du immer noch und schämst dich, seine Augen bleiben hart und ihr streitet weiter. Ich kann die Spinnweben zittern sehen, mit einem einzigen entschlossenen Blick könntest du ihr Grau in wütend-rote Klarheit verwandeln, aber ich verstehe, dass du noch nicht so weit bist.
Ich laufe in deinem Schatten mit, folge dir noch ein wenig auf deinem Weg, hoffe, dass du dich bald an mich erinnern wirst. Ihr streitet so viel und du bist so sichtbar unglücklich und er so wütend darüber, dass die nächste große Eskalation nicht ausbleiben kann. Ich weiß das und ich sage es auch dir. Wahrscheinlich kannst du mich noch hören, meine Stimme ist nur einfach nicht so laut wie das, was dich – im Augenblick noch – an ihn bindet.
Zu gut erinnerst du dich noch an all die schönen Dinge, die er am Anfang zu dir gesagt hat. Du weißt, dass er auch andere Gesichter hat. Er hat dir Seiten von sich gezeigt, die du nicht verlassen willst. Und zu oft läuft in seinem Auto die Musik, die einmal eure gewesen ist.
In seinem Auto seid ihr auch, als es zur nächsten Grenzüberschreitung kommt, ihr streitet wieder. Musik läuft nicht, ihr schreit beide. Du wirst später vergessen, worüber ihr aneinander geraten seid. Du musst dich auch nicht erinnern. Dafür wirst du dir genau merken, wo ihr wart, du wirst dich an die Straße erinnern, sogar an die genaue Stelle – kurz nach der Unterführung -, auf der ihr gefahren seid, als er noch einen Schritt weiter über die Grenze geht, die du einfach nicht ziehst.
Er hat den Arm wirklich hoch gehoben, bis hinter seinen Kopf, und noch während seine Hand herunter geknallt ist auf dein Bein, dein linkes Bein, hat er gebrüllt, dass du schuld bist: „Warum musst du es immer so weit bringen?“ Du kannst nicht wegrennen, nicht einmal antworten kannst du auf diese Gewalt, das Einzige, was du noch tun kannst, ist, deinen Blick und dein Gesicht von ihm abwenden, hin zum Fenster. Was er danach gesagt oder getan hat, wirst du auch vergessen. Du hast natürlich geschwiegen. Er hat dir auch nicht viele andere Möglichkeiten gelassen.
Ich habe trotzdem die Zähne gefletscht und heule wild auf. Er hat fast vergessen, dass es mich gibt, obwohl ich es bin, vor der er sich die ganze Zeit gefürchtet hat. Deshalb kann er es auch wagen, später zu sagen, dass er richtig gehandelt hat. Du warst ja außer dir gewesen, er hat dich nur wieder zur Vernunft bringen wollen. Und du warst dann ja auch tatsächlich wieder ruhig. Still, denken du und ich, nicht ruhig, sondern einfach nur verstummt. Du sagst es nicht.
Trotzdem ist er diesmal zu weit gegangen. Seine Gewalt ist nichts, was du noch grau sehen kannst, egal, wie viele Spinnweben du dir noch vor die Augen hängst. Er wird mein Brüllen hören, auch, wenn es vielleicht nur im leisen Tappen deiner flüchtenden Füße erklingt. Denn natürlich kannst du ihm nicht sagen, dass du ihn verlassen wirst, du hast jetzt viel zu viel Angst vor seiner Reaktion. Aber als du das nächste Mal nach Hause fährst, sind wir uns einig, dass du nicht zurückkehrst. Die Bedürfnisse und Träume auf deinem Dachboden atmen – wenn auch noch zögerlich – auf.
Das Telefonat mit ihm wird natürlich furchtbar, aber die grauen Fetzen vor deinen Augen sind nicht mehr dicht genug, um dir die Sicht auf ihn und seine Farben, auch die dunkelsten, zu rauben. Und irgendwann, wenn du lange genug hart geblieben, wenn er dich lange genug vergeblich übers Telefon beschimpft hat, wird er doch aufgeben, ihr werdet keinen Kontakt mehr haben und du wirst, wenn auch am Anfang noch schuldbewusst, Erleichterung empfinden.
Während du noch eine Zeit lang zweifelst, ob die Trennung wirklich die richtige Entscheidung war, räume ich den Dachboden nach und nach leer, trage die eingestaubten Kisten die Treppe hinunter, damit du sie irgendwann in Ruhe auspacken kannst.
Du wirst dich fragen, ob du ihm nicht einfach vergeben solltest, ob du zu hart warst. Ich werde dir zu raunen, dass du ihm vergeben darfst und wirst, Mädchen. Aber das kommt später. Wenn er und die Gewalt, die er gebracht hat, nicht mehr Teil deines Lebens sind. Du überlegst und nickst dann langsam. Siehst du, so weit bist du schon.
Und wenn dir noch einmal Spinnweben die Sicht rauben, dann wirst du dich nächstes Mal vielleicht ein wenig schneller daran erinnern, dass du keine Angst zu haben brauchst, weil ich, dein wildes, instinktives Selbst, immer in deinem Windschatten mitlaufe. Und geduldig warte, bis du die Grauschleier vor deinen Augen bunt durchleuchtest.
Aber über Spinnweben haben wir jetzt lange genug geredet. Im Wohnzimmer stehen einige vollgestopfte Kisten und warten nur auf dich.

Dienstag, 2. September 2014

Driving in the rain

https://www.youtube.com/watch?v=h6xBa4qely8&feature=youtu.be


Lyrics:
I'm a dancer, dancing in the rain
Holding my face up to the evening sky
And my summerdress is wet
I was dancing for too long
Your voice asked me if I'd like to drive with you
a while, a while, a while

Oh we are driving in the rain
And the rain keeps falling
While light slowly fades
Oh we are driving in the rain

You hold me and your hands are warm
I'm feeling safe, your arms become my home
You tell me dreams of future
Of the house we'll live in
And a better world
Let silence say what's not to say, not to say, not to say

Oh we are driving in the rain
And the rain keeps falling
While light slowly fades
Oh we are driving in the rain

The sky gets dark and dark means beauty
I search your eyes, let's share this special moment
Beautiful you seem when you come a little closer
Kiss me so softly
Let my lips say what's not to say, not to say, not to say

Oh we are driving in the rain
And the rain keeps falling
While light slowly fades
Oh we are driving in the rain

Sonntag, 31. August 2014

Vision

Mit einem Mann aus früherer Zeit ging ich in einen dunklen Wald. 
Er führte mich mitten hinein, zu einem Baum. Eine weiße Leiter stand davor und ich bin hinauf gestiegen. Als ich oben war, auf  der Leiter, auf dem Baum, habe ich meinen Arm gehoben mit ausgestrecktem Zeigefinger und einen weißen, hellen und doch auch goldenen Strahl vom Himmel geholt. Er lief aus den Wolken zu meinem Finger und mit meinem anderen Arm habe ich den Strahl an ihn, der unten wartete, weiter gegeben. 
Und er begann, Gold zu tanzen. Überall, wo seine Füße, seine Hände den Boden, den Wald berührten, blieb goldener Staub zurück. 
Und dann wollte ich zurück zu ihm. Wollte die Leiter hinab. Aber das Bild ließ sich nicht verändern. Ich konnte mich nicht sehen, wie ich den Baum verlasse. 
Dann wurde ich ruhig und sah zum ersten Mal um mich, bemerkte zum ersten Mal, wie schön der Baum war. Eine weiße, sanfte Birke und gleichzeitig eine Linde mit lichtgrünen Herzblättern. Und alles war leicht und frei und Sommersonnenlicht. 
Ich blieb auf dem Baum. Und fühlte mich nicht mehr fern. 
Später einmal habe ich den dunklen Wald wiedergesehen und fand einen Tempel darin. Aus strahlendem Gold. Mit zwei goldenen Figuren im Zentrum und ich erkannte in ihnen uns. Meine Arme zeigten nach oben, ich war wieder seine Priesterin. Und alles war Gold, auch der Wald war Gold. 
Gold ist die Farbe der GlückSeeligkeit. 

Jenseits der Angst sind goldene Bäume gepflanzt
Der Sand ist einverstanden, deine Spuren zu tragen
Es gibt keinen Ort, der nicht dein ist
Und überall liebt Violett

Von der Linde werfe ich drei Tränen herab
Und höre auf, mich herunter zu fragen
Es gibt keinen Ort, der nicht du bist
Jenseits der Angst sind goldene Bäume gepflanzt 

 

Samstag, 26. Juli 2014

Gewalttätige Engel

Mit 13 hatte ich zwei Wünsche, die mein damaliges Umfeld ziemlich irritierten und die ich aber trotzdem immer wieder vehement geäußert habe:
1.: Ich will ein Leben, das auch tragisch ist.
2.: Ich will niemals weise werden.
Gut begründen konnte ich meine Wünsche damals nicht, obwohl ich natürlich immer wieder in die Lage kam, sie erklären zu müssen. Was mich aber heute vor allem an ihnen amüsiert, ist, dass mir damals offenbar völlig entgangen ist, dass mein erster Wunsch alles andere als „unweise“ war ;-)
Das Leben hat mich glücklicherweise beim Wort genommen und mir im Laufe der Zeit das ein oder andere große und kleine Drama beschert, wie allen von uns. Gejubelt habe ich über die Erfüllung meines Teenager-Wunsches natürlich lange Zeit trotzdem nicht.
Wir sind selten begeistert, wenn Schmerz an unsere Tür klopft. Die körperliche Reaktion auf Schmerz ist meistens ein Verkrampfen, unsere Muskeln spannen sich an, wir wehren uns gegen das Schmerzgefühl. Auf emotionalen Schmerz reagieren wir mit einer ähnlichen Abwehrhaltung. Er ist uns unerwünscht, wir verstehen nicht, warum er ausgerechnet bei uns klopft und nicht beim Nachbarn... Wir wollen unsere Türen verbarrikadieren, der Schmerz hat ja auch gar nichts mit uns zu tun, er wird uns nur angetan, und die Person, die ihn zu uns geschickt hat, ist ein Riesenarschloch. Und wenn es das Leben selbst war, dann gilt für das Leben eben genau dasselbe.
Es ist wahrscheinlich wirklich allen von uns schon passiert, dass wir das Leben als ein feindliches Gegenüber erleben, das uns sowieso nur weh tun will und uns permanent ungerecht behandelt. Manche von uns halten ihr ganzes Leben lang an diesem Empfinden fest, was ziemlich traurig ist in meinen Augen, zumal ich ja weiß, wie es sich anfühlt, genau mit so einem Empfinden durchs Leben zu gehen.
Deshalb bin ich – heute ;-) - meinem Leben wirklich dankbar, dass es mir immer mal wieder Schmerz geschickt hat, der einfach so laut an meine Tür gehämmert hat (wenn er sie nicht sogar eingeschlagen hat), dass ich ihn dann schlussendlich doch herein gelassen habe.
Und was ich jedes Mal, wenn ich die Abwehrhaltung gegen den Schmerz aufgegeben habe, staunend feststellen konnte, war: Hoppla, du hast ja doch was mit mir zu tun, es gibt sogar einen ziemlich guten Grund, warum du bei mir geklopft hast und nicht beim Nachbarn, du bist nämlich einfach mein Schmerz.
Der Schmerz hatte immer sehr, sehr gute Gründe, warum er zu mir gekommen ist und bei einer entspannten Tasse Tee hat er sie mir dann auch verraten: „So und so verurteilt dich doch nur deshalb so hart, damit du lernst, zu dir zu stehen, unabhängig vom Urteil anderer.“ Oder: „Diesen Abgrund zeigt dir so und so nur, damit du ihn in dir selber findest und erlösen kannst.“ Und manchmal auch ganz banal: „Der Mensch, mit dem du dich gerade unterhalten hast, hat nur deshalb so ekelhaft gestunken, damit du merkst, wie cool es eigentlich ist, in deiner Haut und nicht in seiner (stinkenden) zu stecken.“ Oder auch: „Du bist einfach deshalb so lange in dieser Situation/dieser Beziehung geblieben, die dir nicht gut getan hat, weil du eben trotz allem noch Verständnis für das Verhalten von so und so hattest. Und Verständnis zu haben, ist doch eigentlich schön. Pass nur einfach nächstes Mal besser auf dich auf. Aber jetzt ist es auch okay so.“
Schmerz ist integrierbar. Und ihn zu integrieren, ist die einzige Möglichkeit, ihn wirklich zu heilen. Wenn wir ihn draußen halten wollen, wird er nicht verschwinden. Er wird immer wieder klingeln, unser Treppenhaus besetzen und ja, am Ende vielleicht sogar unsere Türen zertrümmern und Fenster einschlagen.
Nachdem ich irgendwann – und das hat definitiv eine ganze Weile gedauert ;-) - bemerkt habe, dass der Schmerz vor meiner Tür weder ein Verbrecher noch ein Betrüger ist, sondern vielmehr ein Freund, der einfach nur will, dass ich ihm endlich zuhöre, weil er mir etwas Wichtiges zu sagen hat, habe ich auch aufgehört (Ausnahmen bestätigen die Regel und passieren leider auch immer wieder ;-)) die Personen, die ihn mir geschickt haben, in Gedanken als Arschlöcher zu betiteln. Die sind für mich jetzt höchstens „Arschengel“ oder eben „gewalttätige Engel“, im Grunde wundervolle Wesen, die sich einfach eine „Gewalt-“, „Verletz-“, „Verurteil-“, „Wut-“, „Was auch immer-“ Maske aufgesetzt haben, weil sie wissen, dass ich ohne diese Maske nicht verstehen würde, was sie mir zu sagen haben.
Und der Schmerz, den sie mir geschickt haben, hat sich bisher auch immer als ein nur einfach ziemlich gut verkleidetes Geschenk entpuppt: als Lehrer, als jemand, der Dinge anstößt und ins Rollen bringt (und immer nur das, was auch rollen soll ;-)), er hat Bewegung in Erstarrtes gebracht, war ein Türöffner für ganz viel Veränderung, Wachstum, Transformation, Heilung, neue Wege... Aber das alles konnte er mir nur zeigen, weil ich ihn angenommen habe.
Das Cover von „Violent Angels“ zeigt deshalb auch eine von ihrer letzten Schmerzbegegnung noch sichtbar mitgenommene Jule, die trotzdem die Namaste-Gruß-Geste vollführt (gegenüber ihren gewalttätigen Engeln).
Gandhi soll die Bedeutung von Namaste einmal so wiedergegeben haben:
Ich ehre den Platz in dir, in dem das gesamte Universum residiert. Ich ehre den Platz des Lichts, der Liebe, der Wahrheit, des Friedens und der Weisheit in dir. Ich ehre den Platz in dir, wo, wenn du dort bist und auch ich dort bin, wir beide nur noch eins sind.“
Und wenn ich wirklich bereit bin (dauert oft ein bisschen ;-)), das zu meinem Schmerz und den wundervollen, gewalttätigen Engeln, die ihn gebracht haben (und oft eben auch zum Leben selber), zu sagen, dann brauch ich mir um Heilung und Versöhnung keine Gedanken mehr zu machen.
So viel dazu...
Vielleicht habt ihr ja auch den ein oder anderen gewalttätigen Engel, den ihr noch auf einen Tee (oder bei dem Wetter eher Eis) einladen wollt?
Lots of love,

Jule

p.s.: Im Song erwähne ich auch den Gott Shiva... Shiva (und die Göttin Kali!!!) stehen im Hinduismus unter anderem auch für Zerstörung (=abschreckende Verkleidung von eigentlich cooler Veränderung) und sind deshalb in meinen Augen die Bilderbuch-Violent-Angels :-)


Angels, o violent angels
How sweet the voice that cuts my heart
My peace and all my sanity
A sacrifice to bring to thee

Thank you, violent angels,
Thank you, my sweetest Shiva
Thank you, you brought salvation
Thank you, for now it can die

O saint, you abusive saint
I treasure all the words I've lost
For you I fall onto my knee
Call holy all your judging me

Thank you, violent angels,
Thank you, my sweetest Shiva
Thank you, you brought salvation
Thank you, for now I can go

Don't you save me from the flames
they will purify my soul
Don't you spare me from this storm
It will take what kept me down

Angels, o violent angels
Easier now to embrace the pain
The pain came with a reason
It just said: Please listen to me

Thank you, violent angels,
Thank you, my sweetest Shiva
Thank you, you brought salvation
Thank you, for letting me fall

Dienstag, 15. Juli 2014

Über "meine" Melusine

Melusine ist ein weibliches Naturwesen, eine Wasserfrau. Geschichten von Wasserfrauen und ihren meist verhängnisvollen Beziehungen zu menschlichen Männern gibt es viele. Melusine hat also viele Schwestern und ich hätte mein Lied auch genauso gut Undine oder Loreley nennen können, Melusine klang aber einfach am besten ;-)
Die Geschichten von den Naturfrauen und ihren menschlichen Liebhabern verlaufen meist nach dem gleichen Schema (mit umgedrehten Geschlechterrollen gibt es das Ganze natürlich auch). Naturwesen und Mensch treffen aufeinander, das Naturwesen übt eine starke Anziehung auf den Mensch aus, sie kommen zusammen, meist aber nur, nachdem das Naturwesen dem Mensch eine bestimmte Bedingung gestellt hat. In Melusines Fall lautet die Bedingung, dass ihr Mann, Raymond, sie nie beim Baden beobachten darf. Dieses Tabu wird natürlich gebrochen, die Beziehungen scheitern, Melusine verlässt Raymond, Undine gibt ihrem treulosen Gatten den Todeskuss und und und...
Ich habe all diese Melusine-Geschichten irgendwann vorwiegend als Geschichten der Angst gelesen. In gewisser Weise sind alle Geschichten von gescheiterten Beziehungen Geschichten der Angst. In den meisten Überlieferungen des Melusine-Stoffs sind Angst und Eifersucht die Gründe, warum Raymond das ihm auferlegte Tabu bricht. Das Fremde, „Nicht-Menschliche“ in ihrem Wesen beunruhigt ihn. Er misstraut Melusine, fürchtet, sie könnte ihn heimlich betrügen und „spioniert“ ihr deshalb nach. Als er sie dann beim Baden in ihrer wahren Gestalt sieht (dargestellt meistens als halb Schlange, halb Mensch) werden sein Misstrauen und seine Angst nur größer. Raymond hat im Grunde einfach Angst vor Melusine, vor ihrem Wesen und dem, was ihm daran fremd ist. Als Naturwesen ist Melusine auch eine Urgewalt, sie folgt anderen Regeln und Gesetzen, sie ist in ihrer Tiefe undurchschaubar.
Und diese Angst vor der Tiefe des anderen, vor seiner Kraft finde ich immer wieder in Beziehungen, auch in denen zwischen Mensch und Mensch, und diese Angst und die Trauer darüber, was sie unter Umständen anrichtet, war dann auch meine Hauptinspiration für „meine“ Melusine.
Ich kenne diese Angst auch aus meinen eigenen Beziehungen. Ausgesprochen habe ich das „Ich habe Angst vor dir“ leider nur in den seltensten Fällen. Viel öfter habe ich es nicht gesagt, habe die Angst hinter Kritik oder Ablehnung verborgen oder bin einfach auf Abstand gegangen und geflüchtet. Wir reden selten darüber, wie viel Angst wir eigentlich voreinander haben, wie oft sie uns auf Distanz zueinander hält und unsere Beziehungen auseinander reißt. Nachdem ich das „Ich habe Angst vor dir“ einmal wirklich ausgesprochen hatte, hat es nicht lange gedauert und ich konnte darüber lachen. Ich hatte nämlich gar keinen Grund, Angst zu haben.
Und eigentlich, meine ich zumindest, hatte Raymond auch keinen. In den meisten Überlieferungen wird sogar beschrieben, wie glücklich er mit Melusine war, sie bringt ihm Reichtum und Ansehen, Kinder haben sie auch einen ganzen Haufen und und und... Melusine ist also nicht böse, bedrohlich oder eine Männerverschlingerin.
Melusine (wie ich sie sehe und das ist natürlich ganz subjektiv) ist einfach eine Urgewalt und sie ist beunruhigend tief. Ein Grund Angst zu haben, ist das trotzdem nur, solange man vor seiner eigenen Tiefe zurück schreckt und sich seiner eigenen Kraft nicht sicher ist. Wenn ich selber eine Urgewalt bin, dann freue ich mich über die Begegnung mit einer mir ebenbürtigen Kraft. Nur wenn ich meiner eigenen Kraft, meiner eigenen Tiefe nicht vertraue, flüchte ich vor Wasserfrauen und Wassermännern und wünsche mir, dass sie für immer am Grund irgendeines Tümpels versumpfen und bloß ja niemals die Hand nach mir ausstrecken.
Und da fange ich dann an, Melusine zu bedauern: Tief zu sein ist nicht leicht, wenn Tiefe Angst einflößt, eine Urgewalt zu sein kein Spaß, wenn alle, die in Berührung damit kommen, zurück schrecken... Das ist sicher auch einer der Gründe, warum ich mir noch lange, nachdem ich „Melusine“ geschrieben hatte, nicht vorstellen konnte, sie jemals zu singen. Etwas in mir wollte sie nicht zeigen, wollte sie lieber verbergen, hatte Angst, mit ihr gleichgesetzt zu werden, ja, ich wollte auf gar keinen Fall Melusine sein oder zumindest nicht als Melusine gesehen werden. Verständlich, oder? Wer will schon als eine Frau wahrgenommen werden, die zwar vielleicht anziehend ist, aber deren Beziehungen nahezu naturgesetzmäßig immer an ihrem Wesen scheitern müssen und die als bedrohlich und oft auch böse gilt? Und in Hollywood ist die verführerische, mysteriöse Frau auch selten dieselbe, die der Held am Ende heiratet... Arme Melusine.
Jedenfalls hatte ich dann irgendwann doch das Gefühl, dass Melusine vielleicht einfach einmal zu Wort kommen sollte, zeigen sollte, wer oder was sie eigentlich ist und dass sie eben nicht „böse“ ist. Und heute kann ich auch, ohne mich schlecht zu fühlen, sagen, dass ich selber natürlich auch Melusine bin.
Dass ich irgendwann angstfrei bin, ist utopisch. Hoffnung habe ich, dass ich in Zukunft, wenn mir mal wieder jemand oder etwas Angst macht, einfach daran denke, dass es nur die Angst vor meiner eigenen Tiefe ist, die mich mal wieder erwischt hat... Das verhindert zumindest, dass sich die Angst zu Misstrauen, Vorwürfen, Unterstellungen und Ablehnungen verhärtet. Die Angst trennt auf einmal viel weniger.
Danke, Melusine (innerhalb und außerhalb von mir), für diese Erfahrung! :-)

Dass alles, was ich hier geschrieben habe, meine sehr subjektive Interpretation des Melusine-Stoffs und eher ein Melusine-Erlebnis-Bericht ist, ist, glaube ich, klar. Wer sich für das Thema aus literaturwissenschaftlicher Sicht interessiert, dem kann ich trotzdem ein paar Bücherlein empfehlen:

Stephan, Inge: Weiblichkeit, Wasser und Tod. Undinen, Melusinen und Wasserfrauen
bei Eichendorff und Fouque. In: hg. von Böhme, Hartmut: Kulturgeschichte des
Wassers. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988, S. 234-262.
Kraß, Andreas: Meerjungfrauen. Geschichten einer unmöglichen Liebe. Frankfurt a. M.:
S. Fischer 2010

https://www.youtube.com/watch?v=ILHzK0FmFfA

I linger in the fountains
woods, the windy heights
I'm a part of nature
You can call me a wild child

I am cyclic, have three faces
Follow only my own rules
Always moving, intuition
Safely looked at from afar

The men they love me  
The men can't take me
The men adore me
The men they fear me

I'm instincts, the subconscious 
I'm a water with no ground
Can't be singing sweet and lightly
If you don't learn to love my dark

The men they love me
The men can't take me
The men they want me
The men they chain me

And we will reach into the deep
Afraid you'll flee
A price I have to pay
And I'll love you still

Hard to tame, not easy broken
Full of love and life and laughter
Wish to one day meet a lover
who doesn't fear my deepest depths

The men they love me 
The men can't take me
The men they hold me
The men run from me