Mittwoch, 26. August 2015

Der Raub der schönen Farben

Es war einmal eine Prinzessin mit strahlenden Augen.
Eine neidische Fee hörte eines Tages das glückliche Lachen der Prinzessin und sah die Sonnen in ihren Augen leuchten. Da die Fee selbst schon lange nicht mehr lachte und ihre Augen vom Leben getrübt worden waren, verfluchte sie aus Eifersucht die strahlenden Augen der Prinzessin.
Deine Augen sollen sehen wie meine“, sprach die neidische Fee. „Die leuchtenden Sonnen will ich dir stehlen und keine Farben sollen dir zurück bleiben. In einer grauen Welt aus Schwarz und Weiß sollst du leben. Die schönen Formen will ich dir verzerren, bis ihre scharfen Kanten tief in deine Seele schneiden. Wenn Glück und Liebe zu dir kommen, sollst du blind an ihnen vorüber gehen. An dem Tag, an dem dir alle Farben geschenkt werden, soll mein Fluch sich erfüllen und alle Farben musst du für immer verlieren. Fliehen sollst du vor dem, der dich in allen deinen Farben liebt, und einsam wirst du sterben.“
Die Prinzessin hörte die Worte der Fee nicht mit ihren Ohren, denn die neidische Fee hatte sich vor der Prinzessin hinter einem großen Baum versteckt. Doch der grausame Fluch berührte die Seele der Prinzessin und hinterließ darin seine Spuren.
Als die Prinzessin groß genug war, um das Haus ihrer Eltern zu verlassen, wurde sie von einem Prinzen gefunden. Gemeinsam öffneten sie die Tür, hinter der die Prinzessin ihr Leben lang verborgen gewesen war. Denn, dass er zu ihr kommen würde, um sie in eine größere und noch schönere Welt zu entführen, war seit langem abgesprochen gewesen. Der Prinz schenkte der Prinzessin einen Blumenstrauß, der jede einzelne Farbe auf dieser wunderschönen Erde und auch solche, die noch nie gesehen worden waren, enthielt.
Die Prinzessin wusste, kein anderer Prinz hätte das für sie vermocht. Und noch am selben Abend beschloss sie, diesen und keinen anderen Prinzen zu heiraten. Denn sie erkannte in ihm den, den ihre Seele sich schon vor langer Zeit zu ihrem ewigen Gefährten gewählt hatte. Prinz und Prinzessin waren selig vor Glück und tanzten in einem Himmel, der nur ihnen beiden gehörte.
In der Nacht jedoch begann der Fluch der bösen Fee zu wirken.
Schreiend warf die Prinzessin den Strauß schwarzer welker Rosen von sich, den sie mit einem Mal in der Hand zu halten glaubte. Ungeziefer krabbelte über die verdorrten Blüten. Die Dornen stachen in ihre Haut und um sich herum hörte die Prinzessin das Wehklagen von abertausend Stimmen, die ihr endloses Leid herbei sangen. Was für einen Schmerz und was für eine Traurigkeit hatte der Prinz in ihr Leben gebracht!
Und die Prinzessin flüchtete zurück in das Haus, das sie für den Prinzen verlassen hatte. Sie hörte ihn an ihre Türe klopfen und es klang wie Hammerschläge in ihrem Ohr. Bald sah sie auch seine Gestalt vom Fenster aus, sein Bild spiegelte sich schrecklich im Glas. Gerade eben noch war er schön gewesen, jetzt sah sie in ihm das schrecklichste aller Monster.
O weh“, klagte die Prinzessin. „Was für ein Fluch liegt auf mir, dass alles Schöne sich so schnell in Schreckliches verwandelt hat!? Meine schönen Blumen sind verwelkt, mein Prinz ist zu einem Monster geworden! Warum hat sich mein Leben in einen Albtraum verkehrt?“
Und weil sie den Anblick und das Klopfen des Prinzen nicht ertragen konnte, floh die Prinzessin hinein in einen tiefen, dunklen Wald. Die Tiere des Waldes sahen, dass sie voller Schmerz war. Sie versuchten sich ihr zu nähern und ihre getrübten Augen zu heilen. Aber die Prinzessin floh bald auch vor ihnen. Sie fürchtete sich vor allem, denn wohin sie auch blickte, sah sie ihre schlimmsten Albträume lebendig werden.
Tief hinab unter die Wurzeln eines sehr alten Baumes kroch die Prinzessin. Dort blieb sie einen langen, kalten Winter lang und versteckte sich vor der Welt. Selbst der Gesang der süßesten Vögel konnte sie nicht zurück an die Oberfläche locken, denn er klang in ihren Ohren wie der Schrei von schrecklichen Fledermäusen.
Und der Prinz, der die Prinzessin verloren hatte, war verzweifelt. Bis tief in den Wald hinein war er ihr gefolgt und die Tiere hatten ihm von ihrem Schmerz berichtet. In seiner Not bat der Prinz die Vögel: „Sprecht mit ihr! Ich weiß, dass sie mich nicht hören kann! Sagt ihr, dass ich immer noch nach ihr suche, dass ich noch immer auf sie warte, dass ich sie immer noch liebe!“ Und als die Vögel traurig die Köpfe schüttelten, bat er das Rauschen der Blätter, für ihn zu sprechen.
Ich weiß nicht, wie ich sie erreichen soll!“, verzweifelte er. „Nur wenn ich einmal in ihre Augen sehen kann und sie in meine, kann ich ihre Krankheit heilen. Wenn sie in meinem Strahlen ihr eigenes erinnert. Wenn sie durch die Liebe in meinen selber wieder liebend wird.“
Der uralte Baum, bewegt von den Worten des Prinzen, seufzte: „Du kannst ihren Blick nicht erzwingen, Prinz. Doch du hast lange auf sie gewartet und lange nach ihr gesucht. Wenn du sie wirklich liebst, dann wird sie deinen Blick erwidern. Wenn es wahr ist, dass sich eure Seelen vor langer Zeit schon zusammen getan haben, dann werdet ihr unweigerlich wieder zueinander finden.“
Und dann stellte der uralte Baum dem Prinzen eine Frage: „Kannst du dich selbst noch sehen, wie dich die Prinzessin gesehen hat, bevor ihr Blick sich trübte? Und bist du noch derselbe?“
Der Prinz dachte darüber nach und schloss kurz seine Augen. Und nickte dann. „Ja, ich weiß noch, wie sie mich angesehen hat. Und ich sehe in mir, was sie in mir gesehen hat. Ich bin derselbe, der ich damals war.“
Und es geschah, was noch nie zuvor geschehen war: Der ururalte Baum machte einen Schritt zur Seite und gab den Blick frei auf die schlafende Prinzessin. Erschrocken fuhr sie hoch und sah um sich. Durch die dunklen Nebelschleier in ihren Augen brachen die goldenen Sonnen in den Augen ihres Prinzen. Der Fluch der eifersüchtigen Fee hatte seine Wirkung verloren. Der Prinz hatte für die Prinzessin gesehen, während sie in dunkler Nacht gelebt hatte, und hatte das Licht in ihren Augen wieder entfacht. Und die Prinzessin erwachte endgültig und für immer aus ihrem schrecklichen Albtraum. Ihre Augen leuchteten, wie sie es einst, vor dem Fluch, getan hatten.
Am Tag ihrer Hochzeit trug die Prinzessin ein Kleid, das, wie der Strauß, den sie in Händen hielt, in allen Farben erstrahlte, auch in denen, die noch nie zuvor gesehen worden waren. Sie und der Prinz tanzten durch einen ewigen Himmel.
Die Prinzessin war die glücklichste Frau der Welt. Solange, bis auch der Rest der Welt ebenso glücklich geworden war wie sie, solange, bis alle Augen wieder strahlten. Selbst die unglücklich eifersüchtige Fee erlangte eines Tages all ihre eigenen Farben zurück.