Donnerstag, 29. Januar 2015

In deinem Windschatten

Jemand hat dir Spinnweben vor die Augen gehängt, Mädchen. Und wenn du das Netz nicht bald zerreißt, dann habe ich Angst um dich. Angst, dass du so wirst wie deine Großmutter mit ihren trüben blauen Engelsaugen, die immer in der Lage sind, auch das winzigste Staubkorn wahrzunehmen. In ihrem Haus lässt sie niemals Raum für Spinnweben, die könnten ja auch deinen Großvater stören. Für all die feinen Schleier, die ihr seit Jahren die Sicht rauben, ist sie blind.
Und eigentlich hast du das alles doch gesehen, Mädchen, nicht? Hast dich oft gefragt, wie sie so leben kann und wann sie wohl ihre Träume und Bedürfnisse auf den Dachboden geräumt hat? Das kann ich dir nicht sagen, Mädchen, aber dein eigener Dachboden ist auch nicht mehr so leer. Das macht aber nichts. Noch nicht. Ich passe auf alles auf. Und sehe durch deine Spinnweben hindurch.

Auf die Lautstärke seiner Worte kannst du nur schweigen. Er hat dich Kind genannt. Kind wie dummes Kind. Und du hast die Wucht des Wortes physisch gespürt. Du hast dich geschlagen gefühlt, das darfst du ruhig zugeben. Und natürlich weißt du auch, dass es respektlos ist, dass es eine Grenze überschreitet. So spricht man nicht mit seiner Partnerin.
Aber auf die fast physische Wucht seiner Worte konntest du nur verstummen. Und bist ihm gefolgt in deinen unbequemen Schuhen, die er so mag. Raus aus seinem Auto, die Treppe hinauf in seine Wohnung, die er zu eurer machen will. Du hast das Kleid, das ihr beide mögt, ausgezogen und hast still neben ihm gelegen, leise atmend, wach. Du hast Angst, dass er aufwacht. Seine Wut hängt noch immer im Raum.
Und du hast das Nichts gefühlt, zu dem deine Gefühle für ihn schlagartig geworden sind in der Sekunde, in der sein Wort dich getroffen hat. Du fühlst dich irgendwie schlecht deshalb, dabei musst du es deinen Gefühlen nicht übel nehmen, Mädchen, er hat sie eben verschreckt, sie sind geflohen vor ihm. Und deine späteren Handlungen, die alle nur dazu dienen, dieses Nichts zu verbergen, für das du dich so schlecht fühlst, werden sie nicht zurückbringen.
Du wirst trotzdem bleiben.
Ihr wart ja immerhin auch so glücklich ein halbes Jahr lang. Und deine Familie findet, dass ihr gut zusammenpasst. Du hast dir schon eure Hochzeit ausgemalt, so sicher hast du dich gefühlt mit ihm. Und er ist ja nicht immer so. Er schreit dich nicht immer an und nennt dich Kind wie dummes Kind, er kann auch verständnisvoll sein. Und sicherlich hast du auch schon Dinge gesagt oder getan, die ihn verletzt haben. Das sagst du dir.
Deine Gefühle vergessen die Verletzung trotzdem nicht. Auch nicht die weiteren, die folgen. Es fällt dir manchmal schwer, aufzustehen. Du lachst seltener, was er dir übelnimmt. Hübsch machst du dich immer erst, kurz bevor er nach Hause kommt. Davor hast du nicht die Kraft.
Ich bin die ganze Zeit bei dir und halte deine Hand. Manchmal flüstere ich dir etwas zu. Die Spinnweben vor deinen Augen sind so fein, du könntest sie wegwischen, ganz leicht, mit einer einzelnen Handbewegung. Aber weil sie so fein gewebt sind, ist es auch so schwer für dich, sie zu sehen. Ich kann das verstehen und warte geduldig.
Ich bin bei dir, als du das erste Mal deine Sachen packst, und verlasse dich nicht, als du beschließt, doch zu bleiben. Ab und an werde ich dich erinnern, dass du, als du dir vorgestellt hast, zu gehen, gar nicht so viel Angst hattest. Die Vorstellung, im Zug zu sitzen und weg zu fahren, irgendwo anders hin, weg von ihm, an einen neuen Ort, hat deine Augen aufleuchten lassen. Vielleicht hast du es nicht bemerkt. Wahrscheinlich hättest du dich schuldig dafür gefühlt.
Ich bin auch bei dir an dem Abend, an dem du Menschen aus deinem Leben eingeladen hast, Menschen, die er, wie er sagt, alle nicht mag. Und das sieht man ihm auch den ganzen Abend an. Dein Versuch, trotzdem ausgelassen und fröhlich zu sein, hat etwas Verzweifeltes. Das Flaschendrehen nutzt er, um einen deiner Freunde, auf den er schon lange eifersüchtig ist, zu fragen, ob er mal etwas von dir gewollt hat.
Später – du bist schon ein wenig betrunken – überkommt dich etwas von deinem alten Übermut und du willst einen Papierschnipsel, einen ganz kleinen nur, in die Teelichtflamme werfen. Er hat das Spielerische an dir noch nie verstanden, trotzdem dachtest du eine Zeit lang, er würde diese Seite von dir mögen. Jetzt fährt er dich nur an, kalt und scharf, dass du den Kindergarten lassen sollst. Er verbietet es dir.
Er hat wirklich „verbieten“ gesagt, bei dem Wort spitze ich meine Ohren und drücke deine Hand, so, dass du es spürst. Die grauen Schleier vor deinen Augen werden kurz farbig, tanzen wild hin und her. Alle im Raum schauen zu dir. Du kannst die Angst vor der Eskalation in ihren Augen sehen. Du lässt die Hand mit dem Papierschnipsel sinken.
Aber du hast meinen Händedruck gespürt und als alle gegangen sind, streitet ihr noch lange. Die ganze Nacht. Bis es schon wieder hell wird. Du sagst ihm, dass du seine Wortwahl nicht angemessen findest. Du bist seine Partnerin. Er kann dir nichts verbieten. Er sagt, du verhältst dich so kindisch, da hätte er jedes Recht, so mit dir zu reden. Ja, eigentlich bräuchtest du dich nicht einmal wundern, wenn er dir eine geknallt hätte.
Diesmal ziehe ich an deiner Hand, bin bereit, zu rennen oder anzugreifen, warte, was du tun wirst. Immerhin, du schweigst darauf nicht, du bist empört und sagst das auch und ihr streitet weiter und du bleibst dann aber doch. Und hast noch weniger Kraft.
Ihr streitet viel zu oft, als dass du dich noch stark fühlen, dich erholen könntest. Du kommst gar nicht hinterher damit, das alles zu reparieren, was zwischen euch immerzu in die Brüche geht. Die Gefühle und Bedürfnisse auf deinem Dachboden befinden sich in immer schlechterem Zustand, auch wenn ich immer wieder nach ihnen sehe und sie gelegentlich abstaube. Manche möchten laut aufheulen, sie wissen, dass du sie noch hören kannst, so dicht ist der Nebel um dich noch nicht.
Nur dein Lächeln wirkt jeden Tag gezwungener. Man sieht dir dein Unglück an, er nimmt es dir übel. Du weinst viel und wenn du vor ihm aus dem Zimmer flüchten willst, folgt er dir immer. Dann weinst du immer noch und schämst dich, seine Augen bleiben hart und ihr streitet weiter. Ich kann die Spinnweben zittern sehen, mit einem einzigen entschlossenen Blick könntest du ihr Grau in wütend-rote Klarheit verwandeln, aber ich verstehe, dass du noch nicht so weit bist.
Ich laufe in deinem Schatten mit, folge dir noch ein wenig auf deinem Weg, hoffe, dass du dich bald an mich erinnern wirst. Ihr streitet so viel und du bist so sichtbar unglücklich und er so wütend darüber, dass die nächste große Eskalation nicht ausbleiben kann. Ich weiß das und ich sage es auch dir. Wahrscheinlich kannst du mich noch hören, meine Stimme ist nur einfach nicht so laut wie das, was dich – im Augenblick noch – an ihn bindet.
Zu gut erinnerst du dich noch an all die schönen Dinge, die er am Anfang zu dir gesagt hat. Du weißt, dass er auch andere Gesichter hat. Er hat dir Seiten von sich gezeigt, die du nicht verlassen willst. Und zu oft läuft in seinem Auto die Musik, die einmal eure gewesen ist.
In seinem Auto seid ihr auch, als es zur nächsten Grenzüberschreitung kommt, ihr streitet wieder. Musik läuft nicht, ihr schreit beide. Du wirst später vergessen, worüber ihr aneinander geraten seid. Du musst dich auch nicht erinnern. Dafür wirst du dir genau merken, wo ihr wart, du wirst dich an die Straße erinnern, sogar an die genaue Stelle – kurz nach der Unterführung -, auf der ihr gefahren seid, als er noch einen Schritt weiter über die Grenze geht, die du einfach nicht ziehst.
Er hat den Arm wirklich hoch gehoben, bis hinter seinen Kopf, und noch während seine Hand herunter geknallt ist auf dein Bein, dein linkes Bein, hat er gebrüllt, dass du schuld bist: „Warum musst du es immer so weit bringen?“ Du kannst nicht wegrennen, nicht einmal antworten kannst du auf diese Gewalt, das Einzige, was du noch tun kannst, ist, deinen Blick und dein Gesicht von ihm abwenden, hin zum Fenster. Was er danach gesagt oder getan hat, wirst du auch vergessen. Du hast natürlich geschwiegen. Er hat dir auch nicht viele andere Möglichkeiten gelassen.
Ich habe trotzdem die Zähne gefletscht und heule wild auf. Er hat fast vergessen, dass es mich gibt, obwohl ich es bin, vor der er sich die ganze Zeit gefürchtet hat. Deshalb kann er es auch wagen, später zu sagen, dass er richtig gehandelt hat. Du warst ja außer dir gewesen, er hat dich nur wieder zur Vernunft bringen wollen. Und du warst dann ja auch tatsächlich wieder ruhig. Still, denken du und ich, nicht ruhig, sondern einfach nur verstummt. Du sagst es nicht.
Trotzdem ist er diesmal zu weit gegangen. Seine Gewalt ist nichts, was du noch grau sehen kannst, egal, wie viele Spinnweben du dir noch vor die Augen hängst. Er wird mein Brüllen hören, auch, wenn es vielleicht nur im leisen Tappen deiner flüchtenden Füße erklingt. Denn natürlich kannst du ihm nicht sagen, dass du ihn verlassen wirst, du hast jetzt viel zu viel Angst vor seiner Reaktion. Aber als du das nächste Mal nach Hause fährst, sind wir uns einig, dass du nicht zurückkehrst. Die Bedürfnisse und Träume auf deinem Dachboden atmen – wenn auch noch zögerlich – auf.
Das Telefonat mit ihm wird natürlich furchtbar, aber die grauen Fetzen vor deinen Augen sind nicht mehr dicht genug, um dir die Sicht auf ihn und seine Farben, auch die dunkelsten, zu rauben. Und irgendwann, wenn du lange genug hart geblieben, wenn er dich lange genug vergeblich übers Telefon beschimpft hat, wird er doch aufgeben, ihr werdet keinen Kontakt mehr haben und du wirst, wenn auch am Anfang noch schuldbewusst, Erleichterung empfinden.
Während du noch eine Zeit lang zweifelst, ob die Trennung wirklich die richtige Entscheidung war, räume ich den Dachboden nach und nach leer, trage die eingestaubten Kisten die Treppe hinunter, damit du sie irgendwann in Ruhe auspacken kannst.
Du wirst dich fragen, ob du ihm nicht einfach vergeben solltest, ob du zu hart warst. Ich werde dir zu raunen, dass du ihm vergeben darfst und wirst, Mädchen. Aber das kommt später. Wenn er und die Gewalt, die er gebracht hat, nicht mehr Teil deines Lebens sind. Du überlegst und nickst dann langsam. Siehst du, so weit bist du schon.
Und wenn dir noch einmal Spinnweben die Sicht rauben, dann wirst du dich nächstes Mal vielleicht ein wenig schneller daran erinnern, dass du keine Angst zu haben brauchst, weil ich, dein wildes, instinktives Selbst, immer in deinem Windschatten mitlaufe. Und geduldig warte, bis du die Grauschleier vor deinen Augen bunt durchleuchtest.
Aber über Spinnweben haben wir jetzt lange genug geredet. Im Wohnzimmer stehen einige vollgestopfte Kisten und warten nur auf dich.