Jemand
hat dir Spinnweben vor die Augen gehängt, Mädchen. Und wenn du das
Netz nicht bald zerreißt, dann habe ich Angst um dich. Angst, dass
du so wirst wie deine Großmutter mit ihren trüben blauen
Engelsaugen, die immer in der Lage sind, auch das winzigste Staubkorn
wahrzunehmen. In ihrem Haus lässt sie niemals Raum für Spinnweben,
die könnten ja auch deinen Großvater stören. Für all die feinen
Schleier, die ihr seit Jahren die Sicht rauben, ist sie blind.
Und
eigentlich hast du das alles doch gesehen, Mädchen, nicht? Hast dich
oft gefragt, wie sie so leben kann und wann sie wohl ihre Träume und
Bedürfnisse auf den Dachboden geräumt hat? Das kann ich dir nicht
sagen, Mädchen, aber dein eigener Dachboden ist auch nicht mehr so
leer. Das macht aber nichts. Noch nicht. Ich passe auf alles auf. Und
sehe durch deine Spinnweben hindurch.
Auf
die Lautstärke seiner Worte kannst du nur schweigen. Er hat dich
Kind genannt. Kind wie dummes Kind. Und du hast die Wucht des Wortes
physisch gespürt. Du hast dich geschlagen gefühlt, das darfst du
ruhig zugeben. Und natürlich weißt du auch, dass es respektlos ist,
dass es eine Grenze überschreitet. So spricht man nicht mit seiner
Partnerin.
Aber
auf die fast physische Wucht seiner Worte konntest du nur verstummen.
Und bist ihm gefolgt in deinen unbequemen Schuhen, die er so mag.
Raus aus seinem Auto, die Treppe hinauf in seine Wohnung, die er zu
eurer machen will. Du hast das Kleid, das ihr beide mögt, ausgezogen
und hast still neben ihm gelegen, leise atmend, wach. Du hast Angst,
dass er aufwacht. Seine Wut hängt noch immer im Raum.
Und
du hast das Nichts gefühlt, zu dem deine Gefühle für ihn
schlagartig geworden sind in der Sekunde, in der sein Wort dich
getroffen hat. Du fühlst dich irgendwie schlecht deshalb, dabei
musst du es deinen Gefühlen nicht übel nehmen, Mädchen, er hat sie
eben verschreckt, sie sind geflohen vor ihm. Und deine späteren
Handlungen, die alle nur dazu dienen, dieses Nichts zu verbergen, für
das du dich so schlecht fühlst, werden sie nicht zurückbringen.
Du
wirst trotzdem bleiben.
Ihr
wart ja immerhin auch so glücklich ein halbes Jahr lang. Und deine
Familie findet, dass ihr gut zusammenpasst. Du hast dir schon eure
Hochzeit ausgemalt, so sicher hast du dich gefühlt mit ihm. Und er
ist ja nicht immer so. Er schreit dich nicht immer an und nennt dich
Kind wie dummes Kind, er kann auch verständnisvoll sein. Und
sicherlich hast du auch schon Dinge gesagt oder getan, die ihn
verletzt haben. Das sagst du dir.
Deine
Gefühle vergessen die Verletzung trotzdem nicht. Auch nicht die
weiteren, die folgen. Es fällt dir manchmal schwer, aufzustehen. Du
lachst seltener, was er dir übelnimmt. Hübsch machst du dich immer
erst, kurz bevor er nach Hause kommt. Davor hast du nicht die Kraft.
Ich
bin die ganze Zeit bei dir und halte deine Hand. Manchmal flüstere
ich dir etwas zu. Die Spinnweben vor deinen Augen sind so fein, du
könntest sie wegwischen, ganz leicht, mit einer einzelnen
Handbewegung. Aber weil sie so fein gewebt sind, ist es auch so
schwer für dich, sie zu sehen. Ich kann das verstehen und warte
geduldig.
Ich
bin bei dir, als du das erste Mal deine Sachen packst, und verlasse
dich nicht, als du beschließt, doch zu bleiben. Ab und an werde ich
dich erinnern, dass du, als du dir vorgestellt hast, zu gehen, gar
nicht so viel Angst hattest. Die Vorstellung, im Zug zu sitzen und
weg zu fahren, irgendwo anders hin, weg von ihm, an einen neuen Ort,
hat deine Augen aufleuchten lassen. Vielleicht hast du es nicht
bemerkt. Wahrscheinlich hättest du dich schuldig dafür gefühlt.
Ich
bin auch bei dir an dem Abend, an dem du Menschen aus deinem Leben
eingeladen hast, Menschen, die er, wie er sagt, alle nicht mag. Und
das sieht man ihm auch den ganzen Abend an. Dein Versuch, trotzdem
ausgelassen und fröhlich zu sein, hat etwas Verzweifeltes. Das
Flaschendrehen nutzt er, um einen deiner Freunde, auf den er schon
lange eifersüchtig ist, zu fragen, ob er mal etwas von dir gewollt
hat.
Später
– du bist schon ein wenig betrunken – überkommt dich etwas von
deinem alten Übermut und du willst einen Papierschnipsel, einen ganz
kleinen nur, in die Teelichtflamme werfen. Er hat das Spielerische an
dir noch nie verstanden, trotzdem dachtest du eine Zeit lang, er
würde diese Seite von dir mögen. Jetzt fährt er dich nur an, kalt
und scharf, dass du den Kindergarten lassen sollst. Er verbietet es
dir.
Er
hat wirklich „verbieten“ gesagt, bei dem Wort spitze ich meine
Ohren und drücke deine Hand, so, dass du es spürst. Die grauen
Schleier vor deinen Augen werden kurz farbig, tanzen wild hin und
her. Alle im Raum schauen zu dir. Du kannst die Angst vor der
Eskalation in ihren Augen sehen. Du lässt die Hand mit dem
Papierschnipsel sinken.
Aber
du hast meinen Händedruck gespürt und als alle gegangen sind,
streitet ihr noch lange. Die ganze Nacht. Bis es schon wieder hell
wird. Du sagst ihm, dass du seine Wortwahl nicht angemessen findest.
Du bist seine Partnerin. Er kann dir nichts verbieten. Er sagt, du
verhältst dich so kindisch, da hätte er jedes Recht, so mit dir zu
reden. Ja, eigentlich bräuchtest du dich nicht einmal wundern, wenn
er dir eine geknallt hätte.
Diesmal
ziehe ich an deiner Hand, bin bereit, zu rennen oder anzugreifen,
warte, was du tun wirst. Immerhin, du schweigst darauf nicht, du bist
empört und sagst das auch und ihr streitet weiter und du bleibst
dann aber doch. Und hast noch weniger Kraft.
Ihr
streitet viel zu oft, als dass du dich noch stark fühlen, dich
erholen könntest. Du kommst gar nicht hinterher damit, das alles zu
reparieren, was zwischen euch immerzu in die Brüche geht. Die
Gefühle und Bedürfnisse auf deinem Dachboden befinden sich in immer
schlechterem Zustand, auch wenn ich immer wieder nach ihnen sehe und
sie gelegentlich abstaube. Manche möchten laut aufheulen, sie
wissen, dass du sie noch hören kannst, so dicht ist der Nebel um
dich noch nicht.
Nur
dein Lächeln wirkt jeden Tag gezwungener. Man sieht dir dein Unglück
an, er nimmt es dir übel. Du weinst viel und wenn du vor ihm aus dem
Zimmer flüchten willst, folgt er dir immer. Dann weinst du immer
noch und schämst dich, seine Augen bleiben hart und ihr streitet
weiter. Ich kann die Spinnweben zittern sehen, mit einem einzigen
entschlossenen Blick könntest du ihr Grau in wütend-rote Klarheit
verwandeln, aber ich verstehe, dass du noch nicht so weit bist.
Ich
laufe in deinem Schatten mit, folge dir noch ein wenig auf deinem
Weg, hoffe, dass du dich bald an mich erinnern wirst. Ihr streitet so
viel und du bist so sichtbar unglücklich und er so wütend darüber,
dass die nächste große Eskalation nicht ausbleiben kann. Ich weiß
das und ich sage es auch dir. Wahrscheinlich kannst du mich noch
hören, meine Stimme ist nur einfach nicht so laut wie das, was dich
– im Augenblick noch – an ihn bindet.
Zu
gut erinnerst du dich noch an all die schönen Dinge, die er am
Anfang zu dir gesagt hat. Du weißt, dass er auch andere Gesichter
hat. Er hat dir Seiten von sich gezeigt, die du nicht verlassen
willst. Und zu oft läuft in seinem Auto die Musik, die einmal eure
gewesen ist.
In
seinem Auto seid ihr auch, als es zur nächsten Grenzüberschreitung
kommt, ihr streitet wieder. Musik läuft nicht, ihr schreit beide. Du
wirst später vergessen, worüber ihr aneinander geraten seid. Du
musst dich auch nicht erinnern. Dafür wirst du dir genau merken, wo
ihr wart, du wirst dich an die Straße erinnern, sogar an die genaue
Stelle – kurz nach der Unterführung -, auf der ihr gefahren seid,
als er noch einen Schritt weiter über die Grenze geht, die du
einfach nicht ziehst.
Er
hat den Arm wirklich hoch gehoben, bis hinter seinen Kopf, und noch
während seine Hand herunter geknallt ist auf dein Bein, dein linkes
Bein, hat er gebrüllt, dass du schuld bist: „Warum musst du es
immer so weit bringen?“ Du kannst nicht wegrennen, nicht einmal
antworten kannst du auf diese Gewalt, das Einzige, was du noch tun
kannst, ist, deinen Blick und dein Gesicht von ihm abwenden, hin zum
Fenster. Was er danach gesagt oder getan hat, wirst du auch
vergessen. Du hast natürlich geschwiegen. Er hat dir auch nicht
viele andere Möglichkeiten gelassen.
Ich
habe trotzdem die Zähne gefletscht und heule wild auf. Er hat fast
vergessen, dass es mich gibt, obwohl ich es bin, vor der er sich die
ganze Zeit gefürchtet hat. Deshalb kann er es auch wagen, später zu
sagen, dass er richtig gehandelt hat. Du warst ja außer dir gewesen,
er hat dich nur wieder zur Vernunft bringen wollen. Und du warst dann
ja auch tatsächlich wieder ruhig. Still, denken du und ich, nicht
ruhig, sondern einfach nur verstummt. Du sagst es nicht.
Trotzdem
ist er diesmal zu weit gegangen. Seine Gewalt ist nichts, was du noch
grau sehen kannst, egal, wie viele Spinnweben du dir noch vor die
Augen hängst. Er wird mein Brüllen hören, auch, wenn es vielleicht
nur im leisen Tappen deiner flüchtenden Füße erklingt. Denn
natürlich kannst du ihm nicht sagen, dass du ihn verlassen wirst, du
hast jetzt viel zu viel Angst vor seiner Reaktion. Aber als du das
nächste Mal nach Hause fährst, sind wir uns einig, dass du nicht
zurückkehrst. Die Bedürfnisse und Träume auf deinem Dachboden
atmen – wenn auch noch zögerlich – auf.
Das
Telefonat mit ihm wird natürlich furchtbar, aber die grauen Fetzen
vor deinen Augen sind nicht mehr dicht genug, um dir die Sicht auf
ihn und seine Farben, auch die dunkelsten, zu rauben. Und irgendwann,
wenn du lange genug hart geblieben, wenn er dich lange genug
vergeblich übers Telefon beschimpft hat, wird er doch aufgeben, ihr
werdet keinen Kontakt mehr haben und du wirst, wenn auch am Anfang
noch schuldbewusst, Erleichterung empfinden.
Während
du noch eine Zeit lang zweifelst, ob die Trennung wirklich die
richtige Entscheidung war, räume ich den Dachboden nach und nach
leer, trage die eingestaubten Kisten die Treppe hinunter, damit du
sie irgendwann in Ruhe auspacken kannst.
Du
wirst dich fragen, ob du ihm nicht einfach vergeben solltest, ob du
zu hart warst. Ich werde dir zu raunen, dass du ihm vergeben darfst
und wirst, Mädchen. Aber das kommt später. Wenn er und die Gewalt,
die er gebracht hat, nicht mehr Teil deines Lebens sind. Du überlegst
und nickst dann langsam. Siehst du, so weit bist du schon.
Und
wenn dir noch einmal Spinnweben die Sicht rauben, dann wirst du dich
nächstes Mal vielleicht ein wenig schneller daran erinnern, dass du
keine Angst zu haben brauchst, weil ich, dein wildes, instinktives
Selbst, immer in deinem Windschatten mitlaufe. Und geduldig warte,
bis du die Grauschleier vor deinen Augen bunt durchleuchtest.
Aber
über Spinnweben haben wir jetzt lange genug geredet. Im Wohnzimmer
stehen einige vollgestopfte Kisten und warten nur auf dich.