Sonntag, 1. November 2015

Zeitlos-Raum

 Ein ziemlich alter Text. Geschrieben circa 2009. Aber immer noch vollkommen wahr...

Jeder Mensch hat Zeit-Räume.

Räume mitten in der Zeit, an die er immer wieder zurück kehrt. Räume, die er immer wieder aufschließt, weil er sehen will, was darin ist. Er will vielleicht sich sehen, wie er war, zu einer anderen Zeit. Er will vielleicht einen Menschen wieder sehen, den er einst aus den Augen verloren hat. Zeit-Räume sind Erinnerungsräume.
Und manche Erinnerungen sind den Menschen so kostbar, dass sie die Schlüssel zu ihren Türen immer bei sich tragen. In Form von Fotos in einer Schublade zum Beispiel. Oder in Form von Sätzen, die man sich nur ins Gedächtnis rufen muss, um eine schmerzlich vermisste Stimme noch einmal zu hören.

Es gibt auch solche Zimmer, deren Türen immer offen stehen, weil wir ständig in ihnen ein- und ausgehen. Und manchmal richten wir uns auch häuslich ein in diesen schönen Räumen, in denen glücklicherweise alle Raum-Zeit-Gesetze keine Gültigkeit mehr besitzen, und vergessen dabei unser eigentliches, viel zu karges Zimmer namens Gegenwart mit der hässlichen Aufschrift „Willkommen in der Realität“ an der Tür.

Ja, manchmal lassen wir diese Tür lieber geschlossen und bleiben in unseren Zeit-Räumen.
Mein Zeit-Raum ist weniger ein Zeit-Raum, als vielmehr ein Zeitlos-Raum. Ich habe keinen handfesten Schlüssel für meinen Zeitlos-Raum, außer meinem eigenen Herzen. Wenn dieses Herz wieder einmal zu wild pulsiert und pocht und genauso wenig wie der Flügelschlag eines flatternden Kolibris zur Ruhe kommen mag, dann muss ich es mir einfach aus der Brust nehmen und dieses arme, malträtierte, unvernünftige Ding in seiner Mitte aufbrechen.
All diese unruhigen Gefühle können dann hinfort flattern und die Leere, die kann heraus strömen… Und diese Leere, die sanft wie das Licht aus meinem aufgebrochenen Herzen schwappt, überflutet bald den ganzen Raum, in dem ich stehe, und verwandelt ihn in einen Zeitlos-Raum.

Es gibt dann keine Zeit mehr und auch keinen Raum und ich beobachte mich amüsiert dabei, wie ich in meinem Nirwana herum schwimme. Wie ich reglos dahin treibe, immer zu versinken drohe und mich dann doch immer wieder hoch strampeln muss, raus aus der Leere, rein ins Leben, um mein Kolibriherz noch ein bisschen fliegen zu lassen, bis es wieder so schnell wird, dass seine eigene Geschwindigkeit es zur Aufgabe und zur Rückkehr in die wohltuende Leere zwingt…

Und noch einen Grund habe ich, immer in meinen Zeitlos-Raum der Leere zurückzukehren. Denn nur dort kann ich dir ohne Leid nahe sein. Denn dort, wo ich aufhöre, beginnst du. Und je tiefer ich in meiner Leere versinke, desto mehr lasse ich mein Leben und alles, was mich von dir trennt, zurück. An der Schwelle zur Selbstaufgabe, zur Hingabe an diese Tiefe, diese tiefe Leere wartest du auf mich. Ich werde die Schwelle vielleicht nie überschreiten, aber es ist schön, dich dort stehen und warten zu sehen.
Deshalb vergesse ich so oft die Existenz der Zeit und dämmere in meinem Zeitlos-Raum dahin, eingehüllt in dein schattiges Licht.
Hast du auch einen Zeitlos-Raum? 

                                 Picture taken by Andrea Groh, http://www.andreagroh.com/home/fotografie/

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen